Alexis de Tocqueville: Er sah die Herrschaft der Wirtschaft über die Politik - WELT (2024)

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Alexis de Tocqueville war ein glückloser französischer Außenminister, der unter dem Prinz-Präsidenten Louis Napoleon 1849 nur fünf Monate lang im Amt blieb. Er war kein guter Redner und das Schreiben bereitete ihm Schwierigkeiten. Ein boshafter Zeitgenosse spottete über "diesen Herrn von Tocqueville, der immer aussieht, als wisse er seit aller Ewigkeit, was er im Augenblick eben erfahren hat." Tocqueville schrieb mit "De la Démocratie en Amérique" das meistzitierte Buch über die Vereinigten Staaten, doch eine zentrale Voraussage, für die sein Verfasser schnell bekannt wurde und lange berühmt blieb, wirkt heute überholt.

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Tocqueville prophezeite, eines Tages würden alle Amerikaner "denselben Ausgangspunkt haben... dieselbe Bildung, dieselbe Sprache, dieselbe Religion, dieselben Gewohnheiten und dieselben Sitten". Gleichförmig würden die Menschen in den Vereinigten Staaten denken und gleich gefärbte Leben führen. Amerika aber wurde nicht zum Schmelztiegel. Seine Stärke liegt heute, in den Worten Barack Obamas, darin, dass es zu einer Föderation unterschiedlicher Kulturen geworden ist, das erste kosmopolitische Land im Zeitalter der Globalisierung.

Und doch gilt Alexis de Tocqueville, der von sich schon früh sagte, er gehöre einer intellektuellen und moralischen Schicht an, die zum Aussterben bestimmt sei, zu Recht als immer noch lesenswerter Klassiker der politischen Philosophie. Er ist ein Klassiker, weil er den Aktualitätstest besteht, wie ihn einer seiner großen Bewunderer, der französische Historiker Fernand Braudel, beschrieben hat: "Er ist fähig zu uns und über uns zu sprechen und bringt es fertig, uns zum Nachdenken über uns selbst zu bringen - so weit entfernt von ihm auch die Zeiten und die Stürme sein mögen, die wir durchleben".

Keine Nostalgie, keine Gegenwartsbegeisterung

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Als einer der ersten hat der Aristokrat Tocqueville die Unvermeidlichkeit der Demokratie akzeptiert und hat zugleich, in kompromissloser Nüchternheit, auf ihre inneren Widersprüche aufmerksam gemacht, mit denen wir noch heute fertig werden müssen. Er hat im Streben nach Gleichheit die Triebfeder in der Geschichte der westlichen Zivilisationen erkannt - und hat zeitlebens davor gewarnt, durch ein hemmungsloses Gleichheitsstreben die Errungenschaften der Freiheit aufs Spiel zu setzen. Nostalgie war Tocqueville ebenso fremd wie Gegenwartsbegeisterung. Das Ergebnis seiner lebenslangen Studien fasste er in einem Satz zusammen: Er habe tausend neue Gründe gefunden, um das alte Regime zu hassen - und kaum einen Grund, um die Revolution zu lieben.

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Als Spross einer altnormannischen Adelsfamilie wurde Alexis de Tocqueville am 29. Juli 1805 in Paris geboren. Zu seinen Ahnen gehörte der Verteidiger des später hingerichteten Ludwig XVI.; in der Französischen Revolution entgingen seine Eltern nur durch den Sturz Robespierres dem Tod auf dem Schafott. Tocqueville studierte Jura und wurde Untersuchungsrichter in Versailles. Im Mai 1831 schickte das Innenministerium ihn und seinen Freund Gustave de Beaumont nach Amerika, damit sie dort das Gefängniswesen und den Strafvollzug erkundeten.

Nach der Rückkehr im Frühjahr 1832 veröffentlichten Tocqueville und Beaumont ihren Bericht über das amerikanische Gefängniswesen, der von der Académie française preisgekrönt wurde. Zwei Jahre später erschien, in einer Auflage von nur 500 Exemplaren, der erste Teil von "De la Démocratie en Amérique". Umgehend rezensierte ein begeisterter John Stuart Mill das Buch in der London Review; 1836 erschienen bereits zwei deutsche Übersetzungen. Tocqueville wurde berühmt. 1840 publizierte er den zweiten Teil.

Tocqueville, der Vernunftdemokrat

An Mill schrieb Tocqueville, Amerika habe ihm nur den Rahmen für seine Darstellung geliefert - sein wahres Untersuchungsobjekt sei die Demokratie, deren zukünftige Entwicklung man nirgendwo deutlicher voraussehen könne als in den Vereinigten Staaten. Hier vollziehe sich eine Entwicklung, die auch Europa erfassen werde. Tocqueville wurde zum Vernunftdemokraten. Mit einer Art von "religiösem Erschauern" beobachtete er, wie eine "Große Demokratische Revolution" die traditionelle Gesellschaftsordnung sprengte; sie aufhalten zu wollen, hieß, gegen den Willen Gottes zu kämpfen.

Dennoch blieben Zweifel, ob diese Revolution ins gelobte Land führen werde. Die Zukunft der Demokratie hing davon ab, ob es gelingen würde, zwischen Gleichheit und Freiheit eine Balance zu finden. Die Gleichheit, so Tocqueville, kenne Schmeichler aller Art, aufrechte Ratgeber habe sie nicht.

Als Ratgeber verstand sich Tocqueville, der davor warnte, dass der Weg der Demokratie ebenso in die Unfreiheit wie in die Freiheit führen könne. Unwillkürlich liebten die Menschen die Freiheit - das wesentliche und ständige Ziel ihrer Wünsche aber war sie nicht. Gefährdet wurde die Demokratie durch eine "entartete Gleichheitssucht, die die Schwachen reizt, die Starken auf ihre Stufe herabzuziehen; sie verleitet die Menschen, einer Ungleichheit in der Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen".

Die Amerikaner, ein "Volk von Händlern"

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Tocqueville erschrak vor der "Tyrannei der Mehrheit", die das öffentliche Leben in Amerika bestimmte. Ein König habe früher nur die Macht besessen, das Handeln der Menschen zu beeinflussen, die Mehrheit in Form der öffentlichen Meinung aber wirke nicht nur auf das Handeln, sondern auch auf den Willen der Menschen ein. Tocqueville, der sich als Freund der Vereinigten Staaten bezeichnete, kam zu einem vernichtenden Urteil: "Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als in Amerika."

Er vermisste in Amerika den politischen Enthusiasmus. Die einzige Leidenschaft der Amerikaner lag offenkundig im Erwerb von Reichtümern; sie waren ein "Volk von Händlern, das sich mit Politik beschäftigt, wenn die Geschäfte ihnen die Zeit dafür lassen". Tocqueville ahnte den verhängnisvollen Primat der Ökonomie über die Politik voraus, als er sich fragte, ob nicht in Zukunft die Industriekapitäne die Aristokratie der Demokratie bilden würden.

Tocqueville hatte sein Amerikabuch nicht geschrieben, um im Kampf für oder gegen die Demokratie Stellung zu beziehen. Der Sieg der Demokratie war unvermeidlich; Tocqueville beschränkte sich darauf, "Tatsachen aneinander zu drängen, um daraus allgemeine Wahrheiten herauszupressen". Zugleich wollte er "die Demokratie erziehen". Dazu gehörte der Ratschlag, die Sackgasse des Zentralismus zu vermeiden, in welche das Ancien Régime der europäischen Monarchien geraten war und sich damit sein eigenes Ende bereitet hatte. Demokratie und Föderalismus gehörten zusammen.

Daher bewunderte Tocqueville die amerikanische Verfassung, die das Zusammenspiel der Bundesregierung in Washington mit den einzelnen Staaten der Union in bewundernswerter Weise regelte. So wurden die Vereinigten Staaten zu einer "praktischen Republik". Tocquevilles Modernität liegt nicht zuletzt in der Bedeutung, die er der Bürgergesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement zumisst. Und modern ist er auch mit seiner Überlegung, dass eine Demokratie zu ihrem Überleben darauf angewiesen ist, dass der Einzelne nicht nur seine Grundrechte einfordert, sondern auch bereit ist, Grundpflichten zu befolgen.

Am Notizenberg fast verzweifelt

Im Oktober 1831 schrieb Tocqueville an seinen Vater, um Amerika zu verstehen, wäre nichts nützlicher, als Frankreich besser zu kennen. In die Heimat zurückgekehrt, publizierte er ein Buch über die amerikanische Demokratie, das zugleich dem Ancien Régime Frankreichs den Spiegel vorhielt. Niemand erkannte dies früher als John Stuart Mill, der Tocqueville dazu überredete, für die London and Westminster Review einen Artikel über die politischen Zustände Frankreichs vor 1789 zu schreiben. Der Artikel erschien 1836 und wurde zur Keimzelle des zweiten Hauptwerks von Tocqueville. "L'Ancien Régime et la Révolution" erschien 1856, fünf Jahre, nachdem Tocqueville aus der aktiven Politik ausgeschieden war, drei Jahre vor seinem Tod am 16. April 1859 in Cannes.

Über Amerika hatte Tocqueville aus eigener Anschauung geschrieben. Jetzt wurde der empirische Soziologe zum Historiker - ohne dass sich an seinen Prinzipien etwas änderte. Reisen nach England und Deutschland schärften seinen komparativen Blick, und so intensiv durchforschte er die Archive, dass er schließlich vor dem Berg von Notizen fast verzweifelte, aus dem ein Buch werden sollte. Gegenüber dem Amerikabuch ist "L'Ancien Régime et la Révolution" in den Hintergrund getreten. Zu Unrecht. Es ist immer noch aufregend, zu lernen, dass die Revolution von 1789 keineswegs der radikale Bruch mit dem Vergangenen war, als den ihre Verehrer und Verächter sie gleichermaßen darstellten.

Tocqueville zeigt die Kontinuität der Geschichte: Die Revolution vollendet nur, woran zehn Generationen gearbeitet haben. Alles läuft auf die Eroberung der "égalité" heraus und zu den Gleichmachern und damit Geheimagenten der Revolution gehört nicht zuletzt die französische Monarchie: Als die Könige den Adel seiner lokalen Rechte beraubten, beschleunigten sie die Zentralisierung und legten damit den Grund zur Volksherrschaft. Hier spricht aus Tocqueville der Geist der Fronde, des letzten großen Adelsaufstandes im 17. Jahrhundert. Nicht ohne Schadenfreude behauptet der Aristokrat Tocqueville, ein Sieg des Adels in seinem Kampf gegen den König hätte die Revolution verhindert und die Monarchie gerettet.

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Seine Distanz gegenüber den Revolutionären von 1789 bleibt dennoch gewahrt: "Was mich beeindruckt, ist weniger das Genie derer, die die Revolution gewollt haben als die Dummheit derer, die sie beförderten, ohne es zu wollen." Modern an Tocquevilles Buch über das alte Regime ist sein Verzicht, gesellschaftliche Entwicklungen durch die Psychologie der handelnden Individuen zu erklären. Lange vor Marx ist bei Tocqueville vom "Klassenkampf" die Rede: "Ich spreche von Klassen, nur sie haben in der Geschichte etwas zu suchen."

Außenminister ohne Fortune

Nach dem Erfolg seines Amerikabuches war Tocqueville als Abgeordneter in die Politik gegangen; in der Februarrevolution von 1848 durchstreifte er furchtlos die Strassen von Paris, in denen blutige Straßenkämpfe tobten. Er erschrak darüber, dass Menschen, die nichts besaßen, auf einmal eine Stadt voll unermesslicher Reichtümer kontrollierten. Die Politik wurde eine Sache der großen Zahl: Bis 1848 gab es in Frankreich weniger als 250.000 Wahlberechtigte; kurz darauf konnten sich mehr als neun Millionen Franzosen an den Wahlen zur Gesetzgebenden Nationalversammlung beteiligen; die Wahlbeteiligung lag schließlich bei 84 Prozent.

Im Juni 1849 wurde Tocqueville zum Außenminister ernannt. Er versah sein Amt ohne Fortune: "Ich bin als Denker mehr wert denn als Täter", war sein selbstkritisches Resümee. Als Louis Napoleon sich im Dezember 1851 durch einen Staatsstreich zum Kaiser machte, kam Tocqueville, der dagegen Protest erhoben hatte, für kurze Zeit ins Gefängnis. Dass Napoleon III. durch ein Plebiszit seinen Coup mit überwältigender Mehrheit legitimieren lassen konnte, erstaunte Tocqueville nicht. Er machte sich über die Moral der Mittelklasse keine Illusionen. Und er hatte immer geahnt, dass unter bestimmten Bedingungen der Weg von der Herrschaft des Volkes zur Despotie kurz ist.

Tocqueville konzentrierte sich in den letzten Lebensjahren auf die Arbeit an seinem Buch über das alte Regime. Und er schrieb seine "Erinnerungen". Wie der Herzog von Saint-Simon schrieb er sie cum ira et studio, doch war er höflich genug, ihre Publikation erst nach seinem eigenen Tod und dem Tod seiner Protagonisten zu erlauben. Eine vollständige Ausgabe erschien erst 1942 in Paris. Zeitgenossen beschrieben Tocqueville als Aristokraten, der seine Niederlage akzeptiert hatte. Die Folge war Nüchternheit, keine Melancholie. Er gönnte der Demokratie ihr "blasses Glück". Gerade in Krisenzeiten bleibt sein Rat aktuell: "Geben wir uns also jener heilsamen Furcht vor der Zukunft hin, die uns wachen und kämpfen heißt, und nicht jener weichlichen und untätigen Angst, die die Herzen bedrückt und sie zermürbt."

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